Annas neue Verwandtschaft Kap. 02

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II

Frisch geduscht, dezent geschminkt und mit der schönsten Unterwäsche bekleidet, die man sich von einem Aushilfsgehalt abzüglich Lebenshaltungskosten leisten kann, steige ich in das herbeigerufene Taxi, nenne dem Fahrer die Adresse und lehne mich klopfenden Herzens zurück.

Vorsichtshalber hatte ich einer Freundin gegenüber ein paar Andeutungen gemacht: neuer Job, erstmal schauen, was Privates und so weiter und hatte ihr dann die Adresse genannt, zu der die Frau aus dem Café mich für diesen Freitag Abend eingeladen hatte.

Die mahnenden Blicke, die meine Freundin mir zuwarf, als ich ihr von diesem neuen „Engagement“ erzählte, konnte ich auch durch den Versuch einer Bagatellisierung nicht entkräften. Ich murmelte etwas von einem Künstlerabend, „eventuell Aktfotografie“ und wusste aber selbst, dass dies nicht die Wahrheit war.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, gab sie mir mit auf den Weg, als wir uns heute Nachmittag verabschiedeten.

Wusste ich tatsächlich, was ich tat? Eigentlich nicht, aber machte das nicht auch den Reiz aus? Eine Gratwanderung aus Kontrolle und Ausgeliefertsein, ein kontrollierter Kitzel — macht das nicht das Leben aus? Suchen wir nicht alle nach gewissen Grenzerfahrungen, wenn wir uns hemmungslos betrinken, gemeinsam Gras rauchen oder uns jubelnd in die Tiefen der Achterbahnloopings stürzen? Was ist das anderes als der Geschwindigkeitsrausch der Radrennfahrer, die ohne zu Bremsen und nur mit einem leichten Helm geschützt die Asphaltpisten hinunterrauschen, wohl wissend, dass ein mittelgroßer Stein, eine Öllache oder ein auf die Straße laufender Hund zu einem schweren Sturz führen kann?

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Dies alles hat mich nie gereizt.

Hingegen habe ich als Teenie einen Flirt mit dem Sportlehrer gewagt, wollte wissen, ob ich ihn bekommen könnte. Ein Leben im Konjunktiv. Denn in Wirklichkeit hatte ich überhaupt kein Interesse an ihm. Es war schlicht spannend, mich auszuprobieren, lange Blicke mit ihm auszutauschen und am Abend vor der nächsten Sportstunde im neu gekauften enganliegenden Tanktop aufreizende Gesten mit einem Gesichtsausdruck größter Unschuld vor dem heimischen Badezimmerspiegel einzuüben.

Aber während mich das Taxi heute in den Wirkungskreis meiner neuen Verwandtschaft bringt, muss ich mich der Realität stellen: dies wird anders.

Butter bei die Fische, hätte meine Oma gesagt.

Der Fahrer hält vor einem gepflegten kleineren Anwesen. Steinkugeln zieren die beiden Pfosten der Hofeinfahrt, Efeu und Hopfen ranken sich über die Backsteine der etwa mannshohen Mauer. Ich zahle, nehme meine Tasche und steige klopfenden Herzens aus.

Das Haus liegt in ziemlicher Alleinlage. Ich kann Nachbarhäuser erkennen, aber in dieser Wohngegend scheint man Wert auf Privatsphäre und viel Platz für sich und seine Lieben zu legen.

Das Tor steht weit offen, ein geharkter, dunkler Kiesweg führt zum Haus. Die Steinchen knirschen unter meinen Füßen, als ich mich der Tür nähere. Ich frage mich, ob mir wohl bald von innen geöffnet werden würde. Meine Ankunft muss doch erwartet werden!

Ich betrete die oberste der vier Steinstufen. Ich suche nach einem Türschild, dann nach einer Klingel – beides kann ich nicht entdecken. Vermutlich wird das vordere Tor immer geschlossen sein, so dass niemand fremdes das Grundstück ohne vorherige Anmeldung betreten kann.

Ich sehe mich um und finde das Metalltor an der Einfahrt verschlossen vor. Jetzt ist es sicher, dass Onkel und Tante wissen, dass ich da bin.

Ich betätige den Türknauf und finde ihn ziemlich altmodisch. Edgar-Wallace-like, hätte meine Freundin vermutlich gesagt.

Die Frau aus dem Café öffnet mir, lächelt, schüttelt mir die Hand und sagt: „Anna, schön, dass du endlich da bist. “ Ich sehe erschrocken auf die Uhr: 20.

38 Uhr. Ich finde, ich bin ziemlich pünktlich und denke mir nichts weiter dabei.

„Komm rein. Deine Tasche kannst du dort ablegen, deine Jacke hängst du hier hin. “ Sie deutet zur Garderobe, einer vergoldeten Schnörkelkonstruktion mit großem, verspielten Spiegel in der Mitte.

Im Spiegel sehe ich erst, dass „Tante“ ein eng anliegendes, dunkelgrünes Kleid trägt, dazu die langen Ohrringe von unserem ersten Kennenlernen. Die schlanken Waden werden bedeckt von einer glänzenden, durchsichtigen Strumpfhose und sie trägt Pumps mit kleinen Absätzen.

Wir sind etwa gleich groß und doch fühle ich mich klein neben ihr. Ich streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht und widerstehe dem Drang, mich auf der Stelle umzudrehen und raus in den Garten zu laufen.

Als könnte sie meine Gedanken lesen, fasst sie mir sanft an den Oberarm und führt mich in das Innere des Hauses. Mitten in einem schlicht und teuer eingerichteten Wohnraum lässt sie mich stehen.

Ich weiß nicht, ob ich mich setzen darf, da es mir nicht angeboten wurde. Ich würde gerne die Bilder an den Wänden und die Dinge in den deckenhohen Vitrinen begutachten, halte es aber für unangemessen und unhöflich und tue stattdessen gar nichts. Nichts außer im Raum herumzustehen und zu warten.

„Anna ist da“, höre ich die Frau leise zu jemandem sagen.

Eine angstvolle Spannung steigt in mir hoch, die Frage „bist du empfindlich?“ hallt vor meinem inneren Ohr und wiederholt sich.

Immer wieder. Ich hätte fragen sollen, was mich erwartet, im Café hätte ich fragen sollen. Ich könnte mich ohrfeigen für meine Zurückhaltung, die mich damals — der Nachmittag vor vier Tagen kommt mir gerade so unendlich weit entfernt vor — gehemmt hatte.

Ich sehe mich bereits misshandelt, mit Brustklemmen traktiert und voller Brandmale durch ausgedrückte Zigarettenkippen nackt im kalten Gartenhaus festgehalten…

„Wir wollen nun eine Kleinigkeit essen, du musst doch sicher hungrig sein“, unterbricht die sanfte weibliche Stimme meine unheilschwangeren Gedanken.

Blass wende ich mich ihr zu. Wieder fasst sie an meinen Oberarm. Dann flüstert sie: „Hab keine Angst. Du gehörst doch zur Familie, kleine Anna. “ Ihre kühlen Fingerspitzen fahren meinen Unterarm hinab. In dem Moment bin ich ihr unendlich dankbar.

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